Vom rationalen Denken zur Korruption der Wissenschaft

Einführung

Die Aufklärung definierte die Vernunft als Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen. Sie entwickelte Methoden, um sie wirksam einzusetzen und gegen Irrationalität abzugrenzen. Der technisch-wissenschaftliche Fortschritt der letzten drei Jahrhunderte zeugt von ihrer Wirksamkeit. 

Bis vor kurzem kam der Hauptwiderstand gegen die Rationalität im Westen aus der religiösen Perspektive. Die Kirche weigerte sich, die Kontrolle über die Art und Weise, wie der Mensch die Welt um sich herum wahrnimmt, aufzugeben.

Der schwindende Einfluss der Religion machte jedoch einer Vielzahl von irrationalen und pseudorationalen Glaubenssystemen Platz. Diese untergraben auf aggressive Art die einzigartigen Errungenschaften, die die Rationalität der Welt gegeben hat. Häufig verwenden sie dabei einen Deckmantel von wissenschaftlicher Sprache und verschleiern so den Unterschied zwischen Rationalität und Irrationalität – mit bedenklichen Folgen. Mit diesem ersten, übersichtsartigen Beitrag beginne ich meine Diskussion über dieses Phänomen in den westlichen Gesellschaften.

Die Aufklärung und die Hürden bei der Befreiung der Vernunft

Die Erfindung des mechanischen Buchdrucks war sicherlich der wichtigste Auslöser für die intellektuelle Entwicklung in den westlichen Gesellschaften des 16. Jahrhunderts. Sie ermöglichte den nie dagewesenen Austausch von Ideen und Wissen. Dennoch bedurfte es eines Wertewandels, um die technologische und wissenschaftliche Revolution wirklich in Gang zu bringen.

Die Denkfreiheit des Individuums wurde damals auf verschiedene Weise eingeschränkt. Die religiösen und politischen Mächte hatten über Jahrtausende versucht, die Gedanken der Menschen zu kontrollieren. Lehren der Kirche und Vorgaben der Krone hatten Vorrang vor Beobachtungen und logischen Schlussfolgerungen. Galilei war wohl das prominenteste Beispiel dafür. Häufig wurden solche vorgeschriebenen Wahrheiten vom Individuum als eigene Glaubenssätze verinnerlicht.

Dieser Prozess traf auf psychologische Bedingungen, die per se nicht günstig für eine rationale Denkweise sind. Sigmund Freud erkannte, dass sich der bewusste Teil unserer inneren Welt in einer ziemlich prekären Situation befindet. In den Worten von Gustav Jung: „Das Bewusstsein „(…)“ könnte leicht mit einer Insel im Ozean“ des Unbewussten verglichen werden.

In seinem berühmten Buch „Thinking, fast and slow“ demonstriert D. Kahneman, wie unser instinktives und emotionales System auf unzählige Arten in unser rationales Denken eindringt. Es erfordert Disziplin, den vielen Fallen zu entgehen, wenn wir zu einer „objektiven“ Wahrnehmung der Außenwelt gelangen wollen.

Die Einführung der wissenschaftlichen Methode

Die Denker der Aufklärung waren sich dessen bewusst und versuchten, Regeln und Methoden zu definieren, die ein rationales Denken auch unter widrigen Bedingungen ermöglichen. Drei Grundannahmen lieferten die Bausteine für diese Regeln und Methoden:

  1. Die Welt existiert unabhängig von unserer Wahrnehmung, ist aber rational erfassbar
  2. Unsere Sinne erlauben uns, die Realität wahrzunehmen
  3. Wir sind irrtumsanfällig und müssen deshalb allem „Wissen“ gegenüber skeptisch sein

Die Verbindung des rationalistischen Denkens von Descartes mit dem Empirismus von Bacon und dem Skeptizismus von Hume führte schliesslich zur Entwicklung der wissenschaftlichen Methode, die in Karl Popper im 20. Jahrhundert die definitive Formulierung fand, welche sie gegen Irrationalität abgrenzt.

Was beinhaltet sie?

  1. Theorien können auf beliebige Art und Weise entwickelt werden – erfunden, abgeleitet, geträumt usw.
  2. Der wissenschaftliche Weg, sie zu testen, ist entweder analytisch, d.h. durch Mathematik und Logik, oder empirisch.
  3. Jede Theorie, die weder einer analytischen noch empirischen Widerlegung (= Falsifizierung) zugänglich ist, ist potentiell irrational

Die wichtigsten Schlussfolgerungen sind:

a) Diese Definition der wissenschaftlichen Methode behauptet nicht, dass ein Erkenntnisfortschritt nur durch einen Prozess erreicht werden kann, der sich vollständig an diese Methode hält. Es ist in der Tat meistens nicht der Fall.

b) Wenn wir jedoch ein hohes Vertrauen haben wollen, dass eine gegebene Theorie nicht irrational ist, dann muss sie widerlegbar/falsifizierbar sein, darf aber nicht durch die verfügbaren mathematischen und logischen Werkzeuge oder durch empirische Daten falsifiziert worden sein.

Die moderne Korruption der Wissenschaft

Heute wird jedoch die Trennung zwischen Rationalität und Irrationalität, wie sie von Popper für die Wissenschaft definiert wurde, auf zwei Ebenen in der westlichen Gesellschaft attackiert:

  1. Die postmoderne Philosophie und ihr Ableger, die kritische Rassentheorie, lehnen die Vorstellung von wissenschaftlicher Erkenntnis als objektiv ab. Sie behaupten, dass es nur konkurrierende Narrative gibt, und dass die Machtstruktur bestimmt, welches sich durchsetzt. Dieser Ansatz dominiert die Lehre in einem großen Teil der US-Hochschulbildung. Wissenschaft ist aus dieser Perspektive ein Mittel des weißen Mannes, seine Überlegenheit zu verewigen. Sogar das ganze Konzept einer auf Verdienst basierenden Hierarchie wird abgelehnt, da es einzig der Machterhaltung der weißen Rasse diene.
  2. Die Wissenschaft wird zu einem Werkzeug zur Unterstützung der politischen Macht. Es gibt zwei Wege, die Wissenschaft auf diese Weise zu missbrauchen.
    • Die eine benutzt das Wort „Wissenschaft“ für ihre Autoritätsansprüche, ähnlich wie die Könige in früheren Zeiten „Gott“ als unbestreitbares Argument benutzten, um ihre Machtansprüche zu stützen. Oft wird ein „Wissenschaftler“ als unanfechtbare Autorität benutzt, wo immer die Öffentlichkeit überzeugt werden soll.
    • Der andere Weg ist noch unheilvoller: Wissenschaftler verbünden sich mit der politischen Macht. Davor hat bereits Eisenhower in seiner Abschiedsrede 1961 gewarnt. Wissenschaftler bekommen ihre Zuschüsse von den Regierungen und liefern im Gegenzug die „wissenschaftlichen“ Argumente, mit denen die Regierungen ihren Bedarf an zusätzlicher Macht begründen. Beispiele lassen sich leicht im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung und COVID 19 sowie in den Sozialwissenschaften finden. Dies hat schwerwiegende Konsequenzen. In Bereichen, in denen objektives Wissen die Grundlage für kritische politische Entscheidungen sein sollte, werden die Türen für subjektive, ideologisch motivierte Sichtweisen geöffnet. Richtig und falsch werden dann von denjenigen entschieden, welche die Macht ausüben. Und die Wissenschaft hört auf, die unabhängige und objektive Stimme der Vernunft zu sein. 

Dieser Missbrauch zerstört die Vorstellung einer von der Wissenschaft repräsentierten objektiven Wahrheit als Waffe der Machtlosen gegen die Mächtigen. Wohin das führen kann, hat G. Orwell in „1984“ beschrieben. Details in einem folgenden Beitrag. 

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